Textmaker Helmuth Santler

Der Textmaker – und die Botschaft kommt an

Sporentiefe Apokalypse

MRCarey_Die_Berufene„Ophiocordyceps unilateralis ist eine parasitische Pilzart, die auf Ameisen wächst und deren Verhalten manipuliert.“ Was sich auf Wikipedia so nüchtern liest, ist ein alptraumhaftes Geschehen, das seit Jahrmillionen tropische Rossameisen buchstäblich in den Tod treibt: Sobald ein Insekt infiziert ist, gehorcht es dem Willen des Pilzes, geht zu einem Blatt in Bodennähe, dem bevorzugten, weil besonders luftfeuchten Habitat des Parasiten, verbeißt sich dort in eine Blattader und stirbt; die tote Ameise wird zum Nährboden des Pilzes.

Zombie-Ameisen und Jäger-Zombies

Es kam, wie es wohl kommen musste: Irgendwann sprang Ophiocordyceps auf den Menschen über; seither gibt es einige wenige Überlebende, die verbissen versuchen, so etwas wie Zivilisation und Ordnung aufrechtzuerhalten, und hunderte Millionen Pilzzombies, die nur zwei Verhaltensweisen zu kennen scheinen: bewegungslos herumstehen oder eine einmal ausgemachte Beute unerbittlich jagen. Als Beute geht alles durch, was Fleisch auf den Rippen hat, Delikatesse Nr. 1 ist indes eindeutig Mensch.

Und dann gibt es noch die Kinder: Infiziert, ja, mörderisch gierig darauf aus, sich mit Mensch vollzustopfen, ja, aber ansonsten normal intelligent. Auf einem vergessenen Stützpunkt werden sie wie wilde Tiere gehalten, wie Laborratten in Stücke geschnitten – und, an ihre Sessel geschnallt, unterrichtet. Verhaltensforschung.

Gruseldystopie voll intelligentem Zynismus

Die Zutaten für eine der originellsten Gruselschocker-Dystopien seit langem liegen damit bereit. M. R. Carey strickt daraus einen spannenden Text, der unter der Schaudern machenden Genre-Oberfläche diverse menschliche Befindlichkeiten auf das zynischste kommentiert. Wissenschaftliche Verbohrtheit, militärische Sturheit, moralische Verkommenheit. Zentrales Thema ist indes die Gier, die wahre Erbsünde der Menschheit. Und, so viel Pointe sei verraten: Der Mensch, wenigstens der sich ethisch hinterfragende, hätte sich vermutlich in der Hitlist der gierigen Spezies an der Spitze eingereiht. Es gibt jedoch Arten, die ihn zu übertreffen vermögen – und ihn die andere Seite der Gier lehren: den Mangel, den Verlust, den Untergang.

Ein intelligenter, packender Schlag ins Gesicht: Der Erlösung ist es egal, wie mensch sie erlangt. Solange es nicht so versucht wird wie bisher.

M. R. Carey: Die Berufene. Knaur, München 2014. 508 S., Tb., € 15,50

Kindle-Edition

Autor: Helmuth Santler

31. Okt 2014 um 17:01

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