Textmaker Helmuth Santler

Der Textmaker – und die Botschaft kommt an

Gewaltmonopol, Selbstjustiz und die Gehirnentwicklung

Erich Sassbeck, ein alter Mann und Ex-DDR-Grenzer, mischt sich ein, als Jugendliche ihre ziellosen Aggressionen an einer Sitzbank auslassen; doch statt sich zu besinnen, prügeln sie nun auf ihn ein. Er hat mit dem Leben abgeschlossen, liegt wehrlos am Boden – da erstrahlt eine engelsgleiche Gestalt, erschießt die beiden und verschwindet so plötzlich, wie sie gekommen ist.

Sassbeck, eingefleischter Rationalist, kann keine andere Erklärung geben als: ein Engel habe ihn gerettet. Natürlich glaubt ihm niemand, er läuft Gefahr, wegen Notwehrexzess angeklagt zu werden. Der Journalist Ingo Praise will ihm eine Stimme geben – und wird, als ihm der Beweis für die tatsächliche Existenz des Racheengels in die Hände gespielt wird, zum Anwalt der Opfer im lokalen CityTV.

Fall um Fall wird aufgerollt, in denen Menschen sich zur Wehr setzten oder anderen zu Hilfe eilten – und dafür aufs Schärfste belangt wurden. Der Staat hütet sein Gewaltmonopol so eifersüchtig, dass Notwehr effektiv unmöglich wird; die Justiz übt Milde mit den Tätern, hat keine Gnade für die (wehrhaften) Opfer und bestraft Steuerhinterziehung härter als die Verkrüppelung eines Mitmenschen. Das Sinken der Gewaltverbrechensrate ist ein statistischer Schwindel, mit dem weichgespültes Soziologenblabla untermauert wird. Hat denn der Racheengel nicht recht? Muss der vom Staat schutzlos im Stich gelassene Bürger nicht froh sein, dass jemand anders für ihn eintritt?

Eschbachs neuester Wurf ist einfach großartig: Um die vielschichtige und kontroverse Frage „Selbstjustiz vs. staatliches Gewaltmonopol“ webt er ein an Spannung nicht zu überbietendes Geflecht, in dem mit wenigen, prägnanten Strichen gezeichnete Personen durch ihr Handeln die beiden Seiten der Medaille aufzeigen. Es ist eine Frage, die an fundamentale Polaritäten rührt: Emotion vs. Ratio, Recht vs. Gerechtigkeit, Selbstverantwortung vs. Allgemeinwohl. Wie alle Polaritäten existieren sie gleichzeitig und gleichberechtigt und ergäben nur als Einheit wirklich Sinn; solange aber Politik darin besteht, möglichst viel von der eigenen Sicht der Dinge durchzusetzen, ist die nur scheinbare, künstlich hochgespielte Unvereinbarkeit der Dinge so unüberwindbar wie die Strecke zur Nachbargalaxis.

Eschbach bedient sich einer winzigen Prise Science Fiction, um seinen ganz und gar gegenwärtigen Plot zu entwickeln. Die schlichte Eleganz, die ich an seiner Schreibe stets besonders zu schätzen wusste, soll niemand mit dem Populismusvorwurf herabwürdigen: Er legt die Finger auf viele Wunden, regt zum Nachdenken an, argumentiert Lösungsansätze – und das auf eine Weise, die Gehör findet, anstatt durch eloquente Selbstverwirklichung den Elfenbeintürmen weitere Stockwerke hinzuzufügen. Die Sogwirkung des Textes ist unwiderstehlich, man wird förmlich gezwungen, sich auf differenzierte Weise mit dem Dilemma auseinanderzusetzen.

Man sollte dieses Buch zur Schullektüre machen: Eschbach ist gut für die Gehirnentwicklung.

Andreas Eschbach: Todesengel. Lübbe, Bergisch-Gladbach 2013. Geb., 546 S.

Buch (Hardcover) – E-Book Audiobook 

Autor: Helmuth Santler

02. Okt. 2013 um 12:30

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