Das Leben, die Liebe und der Tod
500-Seiten-Reise in eine zerrissene Künstlerseele: Scott McClouds erste Graphic Novel
Scott McCloud ist Meister in Theorie und Praxis: Mit Comics richtig lesen (1993) schuf er das maßgebliche theoretische Grundlagenwerk über die Rezeption der Neunten Kunst – als Comic. Der wegbereitende Ansatz, ein medientheoretisches Werk zur Gänze in der untersuchten Form zu verfassen, zeichnet auch seine beiden folgenden großen Arbeiten aus, Comics neu erfinden und Comics machen.
Obwohl er sich damit wiederholt als Virtuose der sequenziellen Erzählkunst bewiesen hat – was könnte schwieriger sein, als aus einer kommunikationstheoretischen Abhandlung ein kurzweiliges Lesevergnügen zu machen? – ließ McCloud sich bis ins Vorjahr mit dem Erscheinen seiner ersten großen Graphic Novel Zeit; pünktlich zur Leipziger Buchmesse erblickte The Sculptor nun als Der Bildhauer auch das Licht der deutschsprachigen Buchwelt. „Diese Geschichte wollte ich schon erzählen, noch bevor ich Comics richtig lesen geschrieben habe“, lässt uns der Autor wissen. „Für das Schreiben und Zeichnen habe ich fünf Jahre benötigt, und ich verspreche, jede einzelne Minute dafür verwendet zu haben, das beste Buch zu machen, zu dem ich imstande bin.“
Ein Deal mit dem Tod
David Smith ist jung, talentiert, obsessiv kompromisslos der reinen Kunst verpflichtet und folgerichtig existenzbedrohend pleite. Sein Leben würde er geben für sein Schaffen, für ein unauslöschliches Brandmal im Gedächtnis der Menschheit. Und er bekommt seine Chance: Ein Deal mit dem Tod verhilft ihm zur Fähigkeit, jedes beliebige Material mit seinen bloßen Händen nach seinem Willen zu formen. Der Preis: Es bleiben ihm 200 Tage im Diesseits.
Alles erschaffen zu können ist indes keine Antwort auf die quälenden Fragen: Was bleibt – von mir? Gibt es das Unvergängliche? Wie sieht es aus? Ist es in mir? Wie mache ich es sichtbar? Und wie soll ich die Liebe leben, nach der es mich verzehrt, die mich verhindert, die mich ermöglicht, verwirrende, verzweifelte Sehnsucht?
Die allegorische, tragikomische, romantische Reise in Davids zerrissene Künstlerseele führt beide an Grenzen: den Bildhauer an jene des Seins, McCloud an jene seines Mediums, dessen einzigartige, spezifische Möglichkeiten er als Autor, Regisseur und Kameramann zugleich virtuos ausreizt, ohne je die klare Verbindung zu seinem Publikum einzubüßen.
Das Leben, die Liebe und der Tod – und warum wir es doch immer wieder versuchen. Herzzerreißend!
Scott McCloud: Der Bildhauer. 496 Seiten / € 36,–, Carlsen, Hamburg 2015
Rezension erschienen in DER STANDARD, 11./12. 4. 2015, online unter http://derstandard.at/2000014126810/Leben-Liebe-Tod