Erschütterndes Urteil
Vater-Sohn-Konflikt, interpersonale Auseinandersetzung, Abrechnung mit selbstempfundener Gefühlskälte, Loslösung vom Elternhaus: Das Urteil, Franz Kafkas erste Geschichte, ist mit mehr als 200 Deutungsversuchen der vielleicht meistinterpretierte deutschsprachige Text überhaupt. Kafka selbst notierte über seine, wie er fühlte, Geburt als Schriftsteller: „Nur so kann geschrieben werden, … mit solcher vollständigen Öffnung des Leibes und der Seele.“ In acht Stunden war Kafkas gesamtes (imaginäres) Sein in Worten aus ihm hervorgequollen und zu einem Lebewesen aus Sätzen geworden, das, wie es allem Lebendigen zu eigen ist, zur Gänze zu verstehen selbst dem Autor nie gelang: „Findest Du im ‚Urteil‘ irgendeinen Sinn … Ich finde ihn nicht und kann auch nichts darin erklären“, vertraute er 1913 seinem Tagebuch an.
Doch gerade diese rückhaltlose Verleugnung seiner selbst als Autor=Gott der Geschichte, die Missachtung jeglicher herkömmlichen erzählerischen Logik zugunsten der reinen Hingabe an den Schaffensprozess, an ungefilterte, schonungslose Verwirklichung, ließ ein Werk von elementarer, ja erschlagender Archaik entstehen. Verstörend in seiner Undurchschaubarkeit, überwältigend in seiner rohen, ungezähmten Echtheit.
Und nun als Graphic Novel: Expressive, holzschnittartige, wuchtige Striche des Comic-Künstlers Moritz Stetter unterlegen den minimal gekürzten Text, verstärken rückkoppelnd die Wirkung der heraufbeschworenen Wortbilder, legen bedeutende, aber nie deutende Bilderworte neben Kafkas Sätze. Stetter interpretiert nicht, er begleitet Wort mit Bild, verflechtet die Medien und schenkt der Welt Kafkas Urteil ein zweites Mal. Zeitlose Suggestion in neuem Gewand: für die nächste Generation kafkaesk Erschütterter.
Moritz Stetter / Franz Kafka, „Das Urteil“. € 20,50 / 48 Seiten. Knesebeck-Verlag, München 2015
Im Standard vom 29. August 2015