Ernsthaft aberwitzig: Top 10
Der ganz normale Scify-Cop-Wahnsinn auf Parallelerde 10: Alan Moore und die Alltäglichkeit des vollkommen Absurden.
Stell dir vor, jeder ist ein Superheld. Oder wenigstens ein Super-Sidekick. Oder der Sprössling des Bruders des Freundes … na egal. Jedenfalls, alle tragen fantasievolle Kostüme, sind unzerstörbar, telepathisch, künstliche Intelligenzen (bitte, der politisch korrekte Ausdruck lautet Ferro-Amerikaner, nicht Clicker oder gar Roboter), intelligente Hunde (Haie, Katzen, Mäuse …) eventuell in mannsgroßen Exoskeletten, können sich dehnen, aufblähen, kleinschrumpfen, tragen persönliche Atomwaffen mit sich herum, sind Gestaltwandler … you get the picture.
Oder auch nicht. Das Superhelden-Tollhaus, das sich Alan Moore, seines Zeichens Autor von so herausragenden (und allesamt herausragend verfilmten) Comics wie From Hell, V wie Vendetta und allen voran Watchmen, gemeinsam mit Gene Ha ausgedacht hat, sprengt jede Panelgrenze im Leserkopf und unterhält großartig mit der schieren Fülle an immer wieder auch anspielungsreichen Details, die das Setting bereichern und so glaubwürdig machen, als betrachte man den dokumentarisch festgehaltenen Alltag einer beliebigen, wenn auch reichlich durchgedrehten existierenden Großstadt.
Kopflose Huren und tote Unsterbliche
Ein paar Nutten fehlt der Kopf, zwei Fahrzeuge sind in einen transdimensionalen Unfall verwickelt und in der Bar „Götter“ liegt einer der Unsterblichen tot auf dem Boden: Alltag in Neopolis auf Erde 10, Alltag für das Team des Polizeireviers 10, das sich selbst ohne falsche Bescheidenheit als Top 10 bezeichnet. Stakkatoartig prasseln die Meldungen herein, werden Aufträge erteilt, Positionen zugewiesen, Zeugen vernommen, Verdächtige verhaftet; nicht selten mischen sich die Medien störend ein, wenn Promis betroffen sind, oder einflussreiche Persönlichkeiten machen ihr politisches oder finanzielles Gewicht für diese oder jene Sache geltend. Anwälte blecken (ganz buchstäblich, schließlich ist Mr. Fischman ein Hai im Anzug) die Zähne und drohen, die Früchte der wertvollen Polizeiarbeit zunichte zu machen. Business as usual für Cops also, in das sich Robyn „Toybox“ Slinger dann auch bestens integriert, obwohl ihr als Partner an ihrem ersten Tag Jeff Smax zugewiesen wird, Typ wortkarger Eigenbrötler, Supermacho und Muskelprotz mit rauer (und blauer und unzerstörbarer) Schale, unter der sich gewaltige Beziehungsprobleme verbergen.
Die Story ist komplex samt Plots, Twists, Subplots und Subtwists, das Setting abgedreht bis zum Anschlag, der Polizeialltag sowieso, also echt, eine permanente Gratwanderung zwischen Chaos und Katastrophe … doch Alan Moore schafft es, alle Fäden stets in der Hand zu behalten und die Geschichte so geradlinig zu erzählen, wie das in einem Irrgarten eben möglich ist. Leserfreundlich hilft er bereitwillig aus, sich im Dickicht der in jeder Hinsicht intensiv und dicht gezeichneten, (allzu)menschlichen Charaktere nicht zu verlieren. Und dann ist das Ganze auch noch mit Ironie getränkt und abwechselnd amüsant, berührend, spannend und zum Brüllen komisch – und auf jeden Fall IMMER total schräg, was die Abweichung zur Definition von Normalität macht …
Nach Top 10 wird unser Blick auf Polizeiarbeit und Superhelden- und -schurkentum nie mehr derselbe sein. Moore bringt es so auf den Punkt: „So, du kannst also levitieren oder durch Wände gehen? Na und? Die Welt bleibt ein kalter, herzloser Ort auf jeder Seite der Wände, und von oben betrachtet sieht das Ganze vermutlich gleich noch viel schlimmer aus. Wir sollten den Beamten von Polizeirevier Zehn salutieren. Sie vielleicht bewundern. Aber nicht beneiden. Dafür ist das Leben zu hart.“
Abgedreht ordentlich, absurd normal, aberwitzig ernsthaft: Please more, Mr. Moore!
Alan Moore, Gene Ha, Zander Cannon: „Top 10“. € 27,90 / 352 S. Vertigo, New York 2015