„Risiko“ gegen sich selbst
Erster Teil von Jón Gnarrs Autobiografie: Vom verhaltensauffälligen Kind zum hoffnungslosen Schulabbrecher. Wie man sich täuschen kann …
Unverstanden, ungeliebt, gemobbt, verprügelt – die Kindheit von Jón Gnarr, dem „zukünftigen ehemaligen Bürgermeister von Reykjavík“, wie dem Coverfoto erklärend beigefügt ist, ist kein Spaß. Jón kann sich vor allem auch selbst nicht leiden, findet sich mit seinen roten Haaren und der großen Brille uncool bis dorthinaus und ist auch noch verhaltensauffällig. Noch vor dem Schulalter bringen ihn die alten und völlig überforderten Eltern wiederholt zu Psychotherapeuten, die ihn als sehr intelligent, voller Angst und voller unkontrollierter, sich selbst und andere gefährdender Aggressionen einstufen. Der Bub macht auch wirklich die befremdlichsten Dinge, entzündet ein Lagerfeuer in seinem Zimmer, schlägt einem Mitschüler mit seinem Gipsarm auf den Kopf, macht Sachen kaputt, stiehlt, löst beinahe einen Flächenbrand aus … All das schildert Gnarr in schonungsloser Offenheit, versucht nicht zu erklären, was er damals nicht verstand und wofür er sich selbst hasste, sondern berichtet aus dem Moment, lässt uns all die Geschehnisse und Emotionen und Verwirrungen nacherleben und nachempfinden.
Licht am Ende des Tunnels: Punk and Anarchy
Es dauert Jahre, bis der mittlerweile zu einem notorischen Schulschwänzer und letztlich Schulabbrecher Herangewachsene auf etwas stößt, das ihn so sein lässt, wie er ist, weil es nicht wertet und urteilt, weil es seine Ablehnung von Hierarchien und den Zwängen aus System, Religion und bürgerlichem Konformismus teilt: Punk und Anarchie. Doch obwohl er weiterhin drastische symbolische Gesten setzt und die Bibel sowie seine sämtlichen Schulbücher verbrennt, sind die Hauptlehren, die er aus seinen neuen Überzeugungen zieht, ganz und gar friedlicher Natur: Gewaltlosigkeit und Humor werden zu den Fundamenten seines künftigen Lebens.
„So beweist er, dass man auch ohne Schulabschluss auf dem Bürgermeistersessel einer Hauptstadt landen kann“, schließt der Umschlagtext unter dem Titel „Vom Problemkind zum Polit-Star“. Zusammen mit dem eingangs erwähnten augenzwinkernden Attribut auf dem Cover sind dies die einzigen Hinweise auf Gnarrs weitere Karriere. Diese Jóns Prominenz herausstreichenden, verkaufsfördernden Maßnahmen des Verlags sind hilfreich, um überhaupt auf das Buch aufmerksam zu werden, liegen aber nicht in der Absicht des Autors. Er selbst erzählt uns in diesem ersten von zwei Teilen seiner Autobiografie von den erstaunlichen Dingen, die er als Erwachsener erreichen konnte, nämlich kein Wort: Dies ist seine Geschichte. Nackt. Sie endet mit dem vage gezeichneten, anarchistischen Utopia einer nach allen konventionellen Maßstäben gemessen völlig verkrachten Existenz. Doch dieser wertende Blick ist genau das Problem, und je weniger wir davon wissen, was aus ihm wurde, desto deutlicher wird bei der Lektüre, wie es um die eigene Unvoreingenommenheit steht.
Jón Gnarr, „Indianer und Pirat. Kindheit eines begabten Störenfrieds“. € 19,50 / 253 S. Tropen-Verlag, Stuttgart 2015
Kindle-Edition € 14,99