Textmaker Helmuth Santler

Der Textmaker – und die Botschaft kommt an

Saugen am Blut der Patrioten

Zwei vom Ersten Weltkrieg Ausgespuckte und vom Frieden Verschlungene rächen sich: Meisterhafte Graphic-Novel-Adaption eines Romans um falsche Ehre und echte Gier.

„Als Édouard den verschütteten Albert aus dem Granattrichter befreite, riss ein Metallstück dem Retter den Unterkiefer weg. Alsdann haben sie ihr Elend eingesperrt und versucht, sich ein Überleben zurechtzuschneidern. Nun sind diese beiden Filzläuse des Friedens in mir, jetzt und für immer.“ (Vorwort)

Pierre Lemaitre hat 2013 mit seinem Roman Wir sehen uns dort oben (Deutsch 2014) Publikum und Kritik überzeugt: Das Leid ist unsagbar, untragbar, die von den Feinden verursachten Schmerzen werden nur übertroffen vom Zynismus der „Freunde“, gallbitterer Hass und hilflose Wut zernagen die Seelen. Und doch überleben Albert, der lebendig Begrabene, und Édouard, der den Mund nicht mehr schließen kann, weil er keinen mehr hat. Sie finden ihren Lebensmut wieder, setzen sich fest im Pelz nationalistischer Überheblichkeit und saugen am Blut der patriotischen Selbstüberhöhung. So voller grotesker, starker, schweijkhafter Szenen und Bilder ist diese Kriegshölle, die zur Abrechnung mit einer ebenso ehrbesessenen wie verlogenen Gesellschaft wird, dass der Autor selbst eine Comicadaption veranlasste und sich erstmals auch als Szenarist betätigte.

Kein Comic, sondern eine Computertomographie

Christian de Metter erwies sich als ideale Wahl, um Lemaitres Figuren Gesichter zu verleihen, unverwechselbare, echte, voller bewegender Emotionen und gefühlloser Grausamkeit. Zwischen alptraumhaft und augenzwinkernd balancierend gelingt ihm eine so vorlagengetreue und -gerechte mediale Übertragung, dass der Verfasser des Vorworts verzückt ausruft: „Dies hier ist kein Comic, sondern eine Computertomographie!“

Sicher ist: Mit diesem Bildroman hat man Lemaitres Geschichte nicht bloß gelesen, de Metters Bilder nicht bloß gesehen – man hat sie gelebt. Und fortan mit Albert und Édouard zwei Wesen mehr, die sich in das große Mosaik einfügen, das unser Selbst ausmacht. Wer weiß: Wenn nur genug Filzläuse des Friedens genug Patriotenblut saugen, vielleicht spricht es sich ja doch noch herum. Dass es überall gleich schmeckt, das Blut.

Pierre Lemaitre / Christian de Metter: „Wir sehen uns dort oben.“ € 30,50 / 176 S. Splitter-Verlag, Bielefeld 2016

Autor: Helmuth Santler

29. Juli 2016 um 13:10

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