Petrischale einer wahnhaften Gesellschaft
Was ist das Grundübel der Menschheit? Die alttestamentarischen Todsünden Neid, Zorn, Stolz und wie sie alle heißen? Die nackte Gier, die aggressive, immer fordernde und raffende Seite des Neids? Das Böse selbst?
Juli Zeh gelangt in ihrem großen Wurf Unterleuten zu einem anderen Schluss. Wirklich böse sind die wenigsten, das Böse selbst … sagen wir es so: Gäbe es einen Gott, das Böse wäre seine rechte Hand. Stolz, den konnte man sich mitten in der ehemaligen DDR nicht erlauben. Zorn, den gibt es reichlich – Wut über die Ungerechtigkeiten der Systeme, die eigene Hilflosigkeit. Erlittenen Schmerz, Demütigungen, an die man jeden Tag erinnert wird, 20 Jahre lang. Doch das ist Reaktion.
„Die Wahrheit war nicht, was sich ereignet hatte, …
Ja, mit dem brandenburgischen Dorf Unterleuten „stimmt was nicht. Ganz massiv“. „Die Wahrheit war nicht, was sich ereignet hatte, sondern was die Leute einander erzählten.“ Bis sie den Unterschied aus den Augen verloren und umso mehr auf ihrer „Wahrheit“ beharrten, je weniger Sie davon wussten: „Viel gefährlicher waren Leute, die sich im Recht glaubten. Sie waren ungeheuer zahlreich, und sie kannten keine Gnade.“
Gerade weil es so trügerisch banal scheint, ist es fundamental bedeutsam. Rechthaberei als wahre Erbsünde der Menschheit? Das lässt keinen Platz für heldenhaftes Pathos oder gerechten Zorn, das demaskiert uns schonungslos als die Simpel, die wir sind, als die Fleisch gewordene Antwort auf alle Fragen, für die wir uns halten.
… sondern was die Leute einander erzählten.“
Juli Zeh hat ein grausam gutes Buch geschrieben. Unterleuten, das ist die Petrischale einer in wahnhafte Egozentrik abgedrifteten Gesellschaft. Sie suhlt sich in ihrem selbstorganisierten Sumpf, bis Äußeres die „natürliche“ Ordnung stört. Hier ist es ein geplanter Windpark: Saubere, erneuerbare Energie, die zugleich die notorisch leeren Gemeindekassen füllen würde. Aber doch bitte nicht in meinem Blickfeld! Dabei lautet die eigentliche Frage nur: Auf wessen Grund werden sie errichtet? Wer gewinnt? Ein Kampf entspinnt, der das ganze Dorf mit sich reißt, alte Wunden öffnet und Frontlinien sichtbar macht, hat man erst einmal das Dickicht des Netzwerks aus Abhängigkeiten, geschuldeten Gefälligkeiten und jahrzehntealten Loyalitäten und Beziehungsgeflechten durchschaut. Also kaum, bevor es zu spät ist …
Juli Zeh at her very best
Zehs Präsentation des dörflichen Pandämoniums mit Weltgeltung zeigt die Autorin auf dem Höhepunkt ihres Schaffens: unterhaltsam, präzise, klar, anregend, aufregend – und immer wieder gewürzt mit nahtlos eingefügten Fakten und Sätzen wie „Er wurde nicht älter, er wurde zahlreicher.“ oder „Bäume besaßen keine Vergangenheit. Nur der Mensch wollte das Leben partout als Straße und nicht als Zustand verstanden wissen.“ oder „Er spürte Herz und Lunge, als wären sie ihm gerade erst in die Brust montiert worden.“ Der Titel „Buch des Jahres“ ist aus meiner Sicht damit vergeben.
Juli Zeh, „Unterleuten“. € 25,70 / 640 S. Luchterhand-Verlag, München 2016