Märchenbilderabenteuerreise
Herzerwärmend, zeichenfederzart, poetisch, abenteuerlich, märchenhaft: Handschuh-Kid für Menschen von 9 bis 99.
Wundersam ist ein wunderliches Wort, aus der Zeit gefallen in seiner Bedächtigkeit, aus einer Sprache gefallen, die keinen Platz mehr hat für Tiefschürfendes, das den Dingen zugleich Geheimnisse belässt in einer Mischung aus Respekt, vielleicht sogar Ehrfurcht, und liebevollem Schalk: Alles zu erklären ist der Tod jeglichen Zaubers – und der ungetrübten Freude kindlichen Staunens.
Handschuh-Kid ist eine wundersame Bildergeschichte – der Ausdruck „Graphic Novel“ wird der Sache in seiner Kühle nicht gerecht –, die mit schwarzweißen, zeichenfederzarten Illustrationen voller Ausdruck und Gefühl und sparsamen Dialogen von einem unglaublichen Wunderkind erzählt: Mit „zwei“ hat der Bub zu komponieren begonnen, jetzt, als Neunjähriger, der als Sechsjähriger vermarktet wird, spielt er zwei Stücke zugleich auf dem Klavier, mit jeder Hand ein anderes … Doch dahinter steht ein Impresario, für den selbst der Ausdruck Sklaventreiber noch zu milde scheint.
Eine gestohlene Kindheit und die Suche nach sich selbst
Mit dem Auftauchen von Shoestring, einem Seiltänzer und Dieb, ändert sich alles: Die beiden Jungen freunden sich an, ein Fluchtplan wird gefasst und ausgeführt. Weil Plänen in einer wundersamen Geschichte aber zuallerletzt das ohnedies rare Schicksal zuteil wird, wie geplant zu verlaufen, erfrieren die beiden beinahe im Schnee, landen bei Riesen, wagen sich in die Unterwelt und suchen Rat beim Weisen auf dem Berg der Ziegen. Und noch so manch anderes Unerklärbare ereignet sich, bei dem die Macht in den weißen Handschuhen von Kid die Hauptrolle spielt. Oder wie es der Riese Florin vielleicht sagen würde: „Die Magie der Glückseligkeit schlich sich in das Garn der Fünffingrigkeit.“
„Ein spannendes Fantasyabenteuer als dicke Graphic Novel“ verspricht uns der Verlag auf der Buchrückseite. Ich würde es anders sagen: Was Autorin und Illustratorin hier geschaffen haben, ist eine fantastische, musikalische Märchenbilderreise um eine gestohlene Kindheit, Verrat und Freundschaft und die Suche nach sich selbst, geheimnisvoll und allegorisch erzählt. Vom Cover bis zum Schlusssatz das Gegenteil von cool: herzerwärmend.
Julie Hunt / Dale Newman, „Handschuh-Kid“. € 20,50 / 288 S. Verlag Jacoby & Stuart, Berlin 2016
Kurzkritik in der Standard, 21.1.2017