Graue Zonen, grausames Eis
Henry Drax, der Harpunierer, hält sich nicht mit Gedanken an Konsequenzen oder Regeln des Zusammenlebens auf: Seine einzige Überlegung besteht darin zu erkennen, genau welchem Verlangen er im nächsten Moment nachgeben wird. Schnaps trinken? Vergewaltigung? Pissen? Mord? Es sind alles nur Verrichtungen.
Nun sind aber Kooperation, Kompromiss, ethisches Verhalten Grundbausteine einer funktionierenden Gesellschaft. Umso mehr im Mikrokosmos eines Walfangschiffs auf einer aussichtslosen Fahrt: Die Zeit des Walfangs geht zu Ende. Die Jahreszeit ist falsch. Walfang ist aber auch nicht der wahre Grund der Fahrt.
Betrugsabsichten des Schiffseigners, ein Kapitän, den das Unglück umhüllt wie der Gestank von Verwesung, eine zusammengewürfelte Mannschaft der Verlierer, Henry Drax – und Dr. Sumner, der Arzt, von dem niemand weiß, wie es ihn auf eine derart gottverlassene Mission verschlagen konnte.
Das grauenvolle Drama, das sich entwickeln muss, ist selbstverschuldet. Der brutale Überlebenskampf wird auch zur Nagelprobe: Wer kann bestehen? Der, der an sozialen Werten festhält, so lange es möglich ist – oder der, dem diese Werte nie etwas bedeuteten?
Eine hervorragend dicht und plastisch geschriebene (übersetzte), unfassbar grausame und zugleich zutiefst moralische Abenteuergeschichte. Äußerst lesenswert und definitiv nichts für Zartbesaitete; The Revenant lässt grüßen.
Ian McGuire, „Nordwasser“. 22 € / 302 S. Mare-Verlag, Hamburg 2018