KI – und was bleibt vom Menschen?
Künstliche Intelligenz wird die menschliche millionenfach übertreffen. Als Freund könnte KI ein globaler Retter sein – als Feind den Mensch zur nutzlosen Masse machen. Den IT-Giganten ist alles egal, solange es ihrem narzisstischen Gotteswahn dient. Es liegt an uns – wie immer.
1995 trafen sich 500 „Masters of the Universe“, so die vielfach gewählte Eigenbezeichnung, zu einer Konferenz in San Francisco über Arbeit, Wachstum und Automation in den folgenden Jahren. Der CEO von Sun Microsystems, John Gage, erklärte stolz, dass man in nicht allzu ferner Zukunft für sein gesamtes Unternehmen nur noch „sechs bis acht“ (menschliche) Mitarbeiter benötigen werde; zu diesem Zeitpunkt beschäftigte der damalige Branchenstar 16.000 Personen.
80 % Tittytained, 20 % Elite
Der Mann hat schamlos übertrieben: Einhellig ging man davon aus, einer 80:20-Gesellschaft entgegenzugehen. 20 Prozent Tech-Elite und ein Heer von vier Fünfteln der Menschheit ohne Arbeit, ruhiggestellt mittels „Tittytainment“ – Schöne neue Welt. Die Selbstverständlichkeit, mit der dies auf allgemeine Akzeptanz stieß, machte klar, wo die Silicon-Valley-Tycoons sich selbst in diesem Szenario sahen.
Automation und Robotik sollten’s möglich machen; hunderte Computergenerationen später haben die neuen Götter „Algorithmus“ und „Künstliche Intelligenz“ schon eine gewaltige Strecke auf diesem Weg hinter sich gebracht. KI-Enthusiasten gehen davon aus, dass die künstliche die biologische Intelligenz bis 2030 eingeholt und nicht lange danach (millionfach) überflügelt haben wird. Die 80:20-Gesellschaft scheint unausweichlich – oder hatte gar John Gage doch recht? Denn wozu sollte Menschheit überhaupt noch benötigt werden, wenn künstliche Superintelligenzen alles viel besser wissen, entscheiden und tun können?
Delirierende Gotteskomplexler sind gefährlich
Hinter den buchstäblich entmenschenden Visionen der KI-Jünger, so entlarvt Jürgen Bruhn in seinem etwas trocken-sachlich gehaltenen, dabei hochaktuellen und umfassend recherchierten Buch, steckt nichts weniger als der alte Traum von der Unsterblichkeit – sei es in Form vollständig digitalisierten Bewusstseins oder indem künstliche Superintelligenzen nach und nach das Biologische optimieren und schließlich übernehmen, um als „Menschheit 3.0“ die Intelligenz ins Universum zu tragen. Das mag sich anhören wie der Fieberwahn delirierender Gotteskomplexler, ist aber ausführlich und vielfach belegt.
Was ist überhaupt Bewusstsein …
Freilich gibt es einen großen Haken. Wenn von der „Singularität“ die Rede ist, dem Moment, in dem die Maschinenintelligenz Bewusstsein erlangt, dann weicht die KI-Jüngerschaft der entscheidenden Frage in großem Bogen aus: Was ist das überhaupt, Bewusstsein? Und wie gelangt es in die Hardware, sprich Gehirn? Wir haben keine Ahnung. Wie viel ist also von Prognosen zu halten, die ein zukünftiges Ereignis postulieren, von dem wir nicht einmal in der Gegenwart etwas verstehen – geschweige denn in der Lage sind, es in Form von Code auszudrücken?
Mancher Antwort lautet schlicht: nichts, denn niemals werde es so etwas wie künstliches Bewusstsein geben. Andere weisen darauf hin, dass es gelingen müsse, den KIs humanistische Werte wie Ethik und Moral näherzubringen, zumal nur so ein zutiefst dystopischer Ausgang wie oben skizziert vermieden werden könne. Weder Arbeitslosenheere noch künstliche Intelligenzexplosion seien aufzuhalten – also gelte es, das Beste daraus zu machen. Mehr Intelligenz habe zudem das Potenzial, den drängendsten globalen Problemen – Hunger, Klimakrise, Ökokollaps – wirksam entgegenzutreten. KI könne auch unser Freund sein.
… und wozu braucht man es?
Die IT-Giganten jedoch, allen voran Google und Facebook, schlagen einen anderen Weg ein. Google investiert aberwitzige Beträge in die KI-Entwicklung, versorgt seit 2015 laufend das Pentagon mit der neuesten Software. Es gilt, für den kommenden Informationskrieg gerüstet zu sein. Facebook wiederum „missbraucht seine Nutzer seit einiger Zeit für Experimente. Der Konzern gab bekannt, dass er mit exakt geplanten Manipulationen eines Algorithmus psychologische Einstellungen von Hunderttausenden Nutzern so steuern konnte, wie er es gewünscht hatte.“ In beiden Fällen hat man sich um Bewusstsein nicht geschert; im Silicon Valley wird von der „Entkopplung“ von Intelligenz und Bewusstsein gesprochen, nachdem Letzteres zu erreichen in weiter (oder unendlicher) Ferne scheint und „Forschung, Konzerne, Armeen schließlich nicht ohne Superintelligenzen funktionieren können, jedoch kein Bewusstsein benötigen“.
Der letzte Preis
„Die Planer der Superintelligenzen“, schreibt Bruhn, „wissen nicht, wohin der Weg führen wird. Der gegenwärtige Mensch könnte zur nutzlosen Masse werden.“ Die unreflektierte Konsequenz daraus für die „Masters of the Universe“: volle Kraft voraus.
Allein das Wissen um die Existenz dieser Entwicklungen sollte laut Bruhn erschreckend genug sein, um die Entwicklung einer „genossenschaftlich und gemeinwohlorientierten Parallelgesellschaft“ anzustoßen, nötigenfalls mithilfe von weltweitem zivilem Ungehorsam. Es brauche staatliche und zivilgesellschaftliche Regulation statt freier Hand für ökonomische Giganten, die an der vordersten Front das älteste und fatalste Spiel spielen: den Kampf um die Macht – um jeden Preis. Dieses Mal könnte es der höchste – und letzte sein.
Jürgen Bruhn, „KI – Schlägt die Maschine den Menschen?“, € 19,50 / 162 S. Tectum-Verlag, Baden-Baden 2019