Duftendes Kuschelmonster
Glück lässt sich anpflanzen. Das hat natürlich seinen Preis im real existierenden Kapitalismus: Little Joe überzeugt als irritierend stylishes, vielschichtiges Science-Fiction-Drama – und dank Emily Beecham & Co.
Mehr Konsum, mehr Geld, mehr Besitz, bessere Freizeitangebote und Gesundheitsversorgung, gestiegene Lebenserwartung … es mangelt nicht an Aufzählbarem, um unsere Wohlstandsgesellschaft in einem wohlgefälligen Licht erscheinen zu lassen. Doch bei all diesen Äußerlichkeiten, die zu Recht immer nachdrücklicher hinterfragt werden, ist eine Qualität stets aus dem Rahmen gefallen: Glücklich sind bei all dem die wenigsten geworden.
Jessica Hausner, nach eigener Einschätzung Bewohnerin des „least happy country in the world“, schlägt in ihrem konsequent und in allen Aspekten überzeugend auf Künstlichkeit durchgestylten Science-Fiction-Drama Little Joe, ihrer ersten englischsprachigen Produktion, eine Lösung vor. Little Joe ist eine genmanipulierte, pflegeintensive Pflanze, die ganz viel Liebe und Zuwendung benötigt – und im Gegenzug das Bindungs- und Kuschelhormon Oxytocin und einzigartigen Wohlgeruch verbreitet. Dies verspricht ein ungeheurer Kassenschlager zu werden, die Präsentation steht unmittelbar bevor. Geldgier gepaart mit Zeitdruck ist eine unheilige und gefährliche Allianz; vom ersten Virus-Vektoren-Einsatz an bis zu den Tiefeninterviews bezüglich eines möglichen Allergiepotenzials haben alle nur Augen für das profitable Ziel. Wenn dafür Regeln verbogen und Untersuchungsergebnisse ein wenig nachbehandelt werden müssen …
So überzeugt ist die Biologin Alice (Emily Beecham, Goldene Palme in Cannes als beste Darstellerin) von ihrer blutroten Schöpfung, dass sie ihrem Joe eine Little Joe ins Zimmer stellt. Auf dass der Halbwüchsige nicht so viel allein sei. Im Unternehmen erhebt sich nur eine kritische Stimme: Der Pflanze die Fortpflanzungsfähigkeit per Gene-Editing genommen zu haben, sei unnatürlich. Die Pflanze werde alles unternehmen, um diesen Fehler zu korrigieren. Und wenn wir eines aus Jurassic Park gelernt haben, dann das: „Nature always finds a way.“
Joe jedenfalls verändert sich. Ist das normal in diesem Alter? Oder ist es der Einfluss von Little Joe, hat sie doch die Fähigkeit bekommen, direkt auf das menschliche Gehirn einzuwirken …
Farbflächen an Clockwork Orange gemahnend, schwarzhumorig und voll hintergründigem Schrecken à la David Cronenberg, die Story mit kräftigen Anleihen bei Invasion of the Body Snatchers, entwickelt Hausner ihr ureigenes, wissenschaftlich abgesichertes Szenario – nicht wahrscheinlich, aber keineswegs unmöglich. Großartig unterkühlte Schauspielerei, hypnotische Kameraführung und ein Kostüm- und Set-Design, das in traumwandlerischer Sicherheit die Grenzflächen zwischen Styling-Provokation und ästhetischem Wagemut auslotet. All dies untermalt, konterkariert, unter Spannung gesetzt durch den Score des japanischen Elektromusik-Avantgardisten Teiji Ito. Dessen Lieblingsinstrument: die Singende Nervensäge.
Little Joe
Regie und Buch: Jessica Hausner | Österreich/UK/Deutschland 2019, 105 Min. OV in (ausgezeichnet verständlicher) englischer Sprache
Mit: Emily Beecham (Alice), Ben Whishaw (Chris), Kerry Fox (Bella), Kit Connor (Joe), Phénix Brossard (Ric)
Little Joe ist ab 1. November in den österreichischen Kinos zu sehen.