Viel mehr weniger
„Ich will, dass ihr in Panik geratet“, sagt die Klimaschutzaktivistin Greta Thunberg, die soeben Mensch des Jahres 2019 wurde. Sie weiß: Die Klimakrise kommt nicht, sie ist da. Hier eine Auswahl an nachhaltiger Jugendliteratur zum derzeit wichtigsten Thema – nicht nur für junge Lesende! (online auf derStandard.at)
Die Klimakatastrophe hat Millionen zur Flucht ums Überleben gezwungen. Weite Landstriche sind unfruchtbare Wüsten, in Küstengebieten wurde die Ignoranz aus Jahrhunderten mit Mann und Maus ertränkt. Viel zu viele Menschen, viel zu wenig Lebensraum. Und auch kein Platz für Menschlichkeit.
Zumindest aber schafft es Mhairi, die junge Protagonistin in Nicky Singers Davor und Danach – Überleben ist nicht genug, vom Sudan zu ihrer Großmutter in Schottland. John Lanchester geht in Die Mauer noch einen Schritt in Richtung Ausweglosigkeit weiter: Das titelgebende Bauwerk schottet Britannien hermetisch ab. Salzige Wellen brechen sich an ihr, die letzten Hoffnungen derer, die sich auf den Wellen an sie heranwagen, zerbrechen an ihr. Schaffen es dennoch Verzweifelte ins Land, werden die verantwortlichen Verteidiger dem Meer übergeben – und damit dem sicheren Tod: ein Leben für ein Leben.
Menschen, hört die Signale
Der eindringlichen literarischen Alarmsignale ist damit noch lange kein Ende: Ob die Niederlande zu einer verstreuten Inselgruppe werden, auf der die „Trockenen“ den neuen Adel darstellen (Eva Moraal, Zwischen uns die Flut), halb Südkalifornien – aus Geldgier! – das Wasser abgedreht wird (Neal & Jarrod Shusterman, Dry) oder die Abholzung des Regenwaldes zusammen mit allen anderen permanent begangenen Umweltverbrechen eine Massenflucht erzwingt (Peer Martin, Hope) – die Warnungen vor den Konsequenzen des Ökokollaps sind mittlerweile Legion, gerade in der Jugendliteratur. Die äußerlichen Folgen – Wetterextreme, Überschwemmungen, Dürren, Artensterben, Verlust von Lebensraum, Ernteausfälle – sind dabei immer nur die eine, dunkle Seite der Medaille. Die andere, die hoffnungslose, beschreibt das, was mit der Menschlichkeit geschieht: Drei Tage brauche es, heißt es in Dry, um die zerbrechliche Maske namens Kultiviertheit vom Gesicht der Menschen zu reißen und das darunterliegende, mit allen Mitteln ums Überleben kämpfende Tier zum Vorschein zu bringen. Und der „Tap-Out“, wie das Verdursten-Lassen von Millionen verharmlosend genannt wird, wird um einiges länger dauern – nicht zuletzt, weil durstige Menschen erst einmal kaum fernsehtaugliche Bilder abgeben.
Jagt uns das unwohlige Schauer über den Rücken? Allerdings, und das ist auch gut so. Ja, die Klimakrise ist in aller Munde, aber macht sie den Menschen bereits genug Angst, um sie aus ihrer Komfortzone zu treiben und tatsächlich zum Handeln zu bringen? Ist sie den Regierenden tief genug in die Knochen gefahren, um endlich zu erkennen, dass es nicht um die nächste Legislaturperiode, ein weiteres Jahr im Amt oder das Hüten von Pfründen geht, sondern um nichts anderes als – alles? Offensichtlich nicht; schließlich nehmen die CO2-Emissionen, Paris hin, Kattowice her, nicht einfach ständig zu – sie nehmen immer schneller zu. Die vergangenen sieben Jahre in Folge wurde ein Anstieg der Treibhausgas-Emissionen verzeichnet, 2017 um 1,6 Prozent, 2018 gleich um 2,7 Prozent.
Vom Tun und Lassen
An der einen oder anderen Stelle haben alle angeführten Titel einen Inhalt gemeinsam: Die Situation, so wie sie sich darstellt, sie hätte verhindert werden können. Die Informationen waren sämtlich verfügbar gewesen, jahrzehntelang. Von ein paar gekauften Pseudowissenschaftlern abgesehen waren sich alle prinzipiell einig gewesen. Darüber, dass es sich um eine menschengemachte Krise handelt. Und über das, was man tun und, vielleicht noch wichtiger, lassen hätte sollen.
An Vorschlägen dazu mangelt es nicht: Sascha Mamczak und Martina Vogl präsentieren in Es ist DEIN Planet. Ideen gegen den Irrsinn gleich sechs der grundlegenden Art, weil doch nicht wahr sein darf, dass wir wissend und sehenden Auges unsere Lebensgrundlagen vernichten. „Klimakatastrophe, zubetonierte Landschaften, Meere voller Müll – mit diesem Irrsinn habt ihr Erwachsenen den Planeten kaputtgemacht und uns die Zukunft geklaut.“ Das Autorenduo legt diese Ansicht (Einsicht?) seinem Protagonisten Paul in den Mund, der das seinem Klassenlehrer als Kommentar zur anstehenden Projektwoche „Umweltprobleme“ um die Ohren haut. Der drückt ihm daraufhin eine eigene Gruppe aufs Aug und will Taten sehen: „Und am Freitag hören wir uns an, wie du es besser machen willst. Wenn dir überhaupt irgendetwas einfällt.“
Zur allgemeinen Überraschung fällt Pauls Gruppe eine Menge ein: Der Tag der Außerirdischen, an dem wir uns die ganze Sache mal von außen betrachten; der Baum der Entscheidungen, um zu verstehen, wie man dorthin gelangt ist, wo man gerade ist – und warum; der Zukunftsunterricht. Denn: „Manchmal muss man sich die Zukunft eben vorstellen können. Sonst wird es nichts damit.“
Grundlage des Zukunftsunterrichts ist die „vertikale Solidarität“. Wir leben in der Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft zugleich und (dürfen) „die Zukunft nicht so festlegen, dass die nach uns gar nicht mehr in ihrer eigenen Gegenwart leben können, sondern in unserer leben müssen“. Jostein Gaarder verdeutlicht diese Zukunftsverantwortung, indem er in 2084 – Noras Welt seine Titelheldin auf eine Bewusstseinszeitreise schickt. Nach der Rückkehr und im Wissen, was geschehen wird, muss das Mädchen sich engagieren. Der Roman wirkt Gaarder-typisch etwas märchenhaft, liefert dabei aber viele konkrete Anregungen, um in der wirklichen Welt aktiv zu werden, und ist einer der ganz wenigen ansatzweise positiven Zukunftsentwürfe. Die Hauptidee, die Gamification des Arten- und Naturschutzes, mag auf den ersten Blick befremden: Wir machen ein Spiel aus unserem Existenzkampf? Vielleicht ist aber gerade dieser Vorschlag einer der einsichtigsten in unserer konsumistischen Welt: After all, the show must go on. Also warum nicht aufspringen auf diesen Zug?
Die Klimakrise kommt nicht. Sie ist da
Tatsächlich können wir uns nicht länger erlauben, irgendetwas unversucht zu lassen. Verschaffen wir uns einen raschen Überblick über die Faktenlage, am besten per Lektüre des quadratisch-praktisch-guten Büchleins Kleine Gase – große Wirkung. Der Klimawandel von David Nelles und Christian Serrer. Sachlich, ruhig und grafisch überzeugend aufbereitet wird der Stand des Wissens umfassend und dabei gleichermaßen verständlich wie präzise vermittelt. So erfahren wir etwa, dass der Klimawandel „als größte globale Gesundheitsgefahr des 21. Jahrhunderts angesehen“ wird und 2010 vorsichtig geschätzt über 500 Mrd. Dollar an Kosten verursacht hat. Außer Frage steht, dass er menschengemacht ist. „Ironischerweise ist gerade dies eine gute Nachricht“, lautet das optimistische Schlusswort der beiden. „Wir haben auch einen Einfluss auf die Entwicklung des zukünftigen Klimas und sind nicht machtlos gegen den Klimawandel.“
Haben wir, sind wir nicht. Alles gut und schön, nur bleibt dies so lange eine Worthülse, solange konkrete Maßnahmen ausbleiben. „Wir sind hier, wir sind laut, weil ihr uns die Zukunft klaut“, der Kampfschrei der Fridays-for-Future-Bewegung, hat den Fokus der Welt genau darauf gerichtet. Titel wie Unsere Zukunft ist jetzt! Kämpfe wie Greta Thunberg fürs Klima (Hecking et al., ab 8) oder Valentina Gianellas Mein Name ist Greta (ab 12) erweisen der „Jeanne d’Arc des 21. Jahrhunderts“ ihre Referenz, führen das Momentum weiter und geben praktische Handlungstipps. So vieles wird schon getan, so viel mehr kann jeder Einzelne noch tun: Radfahren, Energiesparen, Gemüse essen … Every Day for Future listet gleich „100 Dinge“ auf, „die du selbst tun kannst, um das Klima zu schützen“. Es sind kleine Dinge, aber in Summe sollten sie doch … werden sie doch …
Vom Ende der Klimakrise
Dann jedoch ergreifen Luisa Neubauer, die „deutsche Greta Thunberg“, und Alexander Repenning das Wort und berichten Vom Ende der Klimakrise. Und die Wahrheiten drohen uns zu erschlagen.
Wahrheiten wie die, dass der Countdown unbarmherzig läuft. Stand jetzt ist das verbleibende CO2-Budget, um das 1,5-Grad-Ziel „mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit“ halten zu können, in zehn Jahren aufgebraucht. Statt 2050, dem in Paris vereinbarten Jahr des Erreichens der Netto-Null-Emission. Wir sind hunderte palmölbetriebene Blockheizkraftwerke, mehr als eintausend aktuell geplante Kohlekraftwerke, Millionen übermotorisierte Fahrzeuge und Flugkilometer, Milliarden an Subventionen für die Agroindustrie und andere Klimaschädlinge davon entfernt. Und dann ist da noch die Sache mit den Kipppunkten: Diese „sind die Deadline der Menschheit, zynischerweise nicht nur im metaphorischen Sinn“. Es gibt Rückkoppelungseffekte: Das Eis schmilzt, das zum Vorschein kommende Land nimmt deutlich mehr Wärme auf als das reflektierende Eis, die Erwärmung wird beschleunigt, das Eis schmilzt schneller … Ab einem bestimmten (Kipp)punkt ist die Dynamik irreversibel. Game over.
Neubauer und Repenning machen kein Hehl daraus, im Zuge ihrer extensiven Recherchen immer wieder an ihre Grenzen gestoßen zu sein: Wie die Hoffnung aufrechterhalten? Müssen wir doch zunächst die (sozialen, wirtschaftlichen etc.) „Rahmenbedingungen dafür ändern, dass ein wirklich klimafreundliches Leben überhaupt erst möglich wird“. Als wäre das Emissionsproblem allein nicht schon schier unbewältigbar.
Dass sie letztlich zu einem „Wir wissen, dass es möglich ist“ gelangen, liegt an dem einen, das die Klimakrise nicht ist: etwas Individuelles. „Organisiert euch!“ sollte Vom Ende der Klimakrise ursprünglich heißen: nur gemeinsam kann es gelingen.
Das Buch ist persönlich, emotional, fundiert, wahrhaftig, tiefgehend, in höchstem Maße unbequem – und eine unmissverständliche Kampfansage frei von jeder institutionellen Agenda. „Wir sind die Zukunft. Wir sind diejenigen, in deren Händen es liegt, auf welche Weise die großen Veränderungen kommen werden: by design or by disaster. Wir wissen, was gemacht werden muss.“
Jetzt liegt es an uns.
John Lanchester, „Die Mauer“. € 24,70 / 348 S. Klett-Cotta, Stuttgart 2019. Ab 14
Neal & Jarrod Shusterman, „Dry“. € 15,50 / 448 S. Sauerländer, Frankfurt 2019. Ab 14
Nelles, Serrer, „Kleine Gase – große Wirkung. Der Klimawandel“. € 5,20 / 132 S. KlimaWandel-Verlag, Friedrichshafen 2018. Ab 10
Mamzak, Vogel, „Es ist DEIN Planet. Ideen gegen den Irrsinn“. € 9,30 / 224 S. heyne fliegt, München 2019. Ab 14
Hecking, Schönberger, Sokolowski, „Unsere Zukunft ist jetzt! Kämpfe wie Greta Thunberg fürs Klima“. € 10,30 / 92 S. Oetinger-Verlag, Hamburg 2019. Ab 8
Neubauer, Repenning, „Vom Ende der Klimakrise. Eine Geschichte unserer Zukunft“. € 18,50 / 304 S. Tropen, Stuttgart 2019. Ab 14
Im Standard, 21.12.2019; online auf derStandard.at