Sterben auf kleiner Flamme
Jean Ziegler besuchte das Flüchtlingslager auf Lesbos: eine Dokumentation des moralischen Verfalls Europas
„In meiner Eigenschaft als Vizepräsident des Beratenden Ausschusses des Menschenrechtsrats der Vereinten Nationen bin ich im Mai 2019 nach Lesbos gereist.“
Mit diesem Satz beginnt Die Schande Europas: Es ist ein Bericht. Sorgfältig recherchiert, reich an harten Fakten, sachlich. Es scheint fast, als sei dem bekannt scharfzüngigen Kapitalismuskritiker Jean Ziegler angesichts des Entsetzlichen, das er zu bezeugen hat, nichts anderes übrig geblieben, als sich emotional von seinem Subjekt abzukoppeln, um handlungsfähig zu bleiben. Das Werten überlässt er großteils anderen.
Die Schande Europas, das sind die sogenannten Hotspots, offiziell „Erstaufnahmeeinrichtungen“, auf den Ägäischen Inseln Lesbos, Kos, Leros, Samos und Chios. Die Einrichtungen sind für insgesamt 6400 Menschen ausgelegt. Zum Zeitpunkt von Zieglers Besuch befanden sich 39.000 Personen dort, fast zwei Drittel davon Frauen und Kinder (35 %). Heute sind es um einige Tausend mehr. „Die Leute leben hier wie Tiere“ (Die Zeit). Das größte der „Konzentrationslager“, jenes auf Lesbos, heißt Moria. „Moria heißt auf Spanisch er starb. Und genau das tut man in Moria. Man stirbt auf kleiner Flamme. Langsam. Von innen.“ (M. Weibel, Int. Rotes Kreuz).
Die unmenschlichen Zustände und die oft jahrelangen Wartezeiten bis zu einem – dann rund 15-minütigen – Erstgespräch sind multiple Verbrechen: Sie missachten das Asylrecht, das Verbot von Folter, jegliche völkerrechtliche Schutzvorschrift, das Recht des Kindes, die Menschenrechte auf Gesundheit, Familie, angemessene Unterkunft und Ernährung. Ärztliche Versorgung gibt es de facto nicht (sieht man von Ärzte ohne Grenzen ab), Familien werden auseinandergerissen, Krätze und Läuse sind allgegenwärtig, das Essen reicht bei Weitem nicht und wird dennoch oft weggeworfen, nachdem man stundenlang dafür angestanden hat: verfault, verschimmelt, verdorben.
Dahinter steckt Kalkül: „Das System der Hotspots ist eine Form der Abschreckung“ (Danish Refugee Council). Die wirkungslos bleibt: Hunderttausende sind dennoch auf der Flucht. Sie werden dem Sterben überlassen (Hilfe bei Schiffbruch unterbleibt) oder gewaltsam in türkisches Hoheitsgebiet zurückgedrängt: Bei von „Bürokraten der EU angeordneten“ illegalen „Push-Back-Operationen“ werden die Menschen mit Eisenstangen verprügelt, und es sind Fälle dokumentiert, in denen Schlauchboote zerschnitten, Motoren entfernt, Boote zum Kentern gebracht wurden. Zahlreiche „unfallbedingte“ Todesfälle wurden verursacht.
Dennoch schaffen es Hunderte täglich: Die lückenlose Überwachung der Ägäis ist unmöglich. Trotz Hightech-(Satelliten)-Überwachungssystemen, Röntgen- und Atemluftscannern usw. Die Jagd auf Flüchtlinge ist für die Rüstungsindustrie „profitabler als jeder gegenwärtig wütende Krieg“.
Europas Moral verfällt. Es soll mehr Hotspots geben, die Flüchtlingsjagd wird personell und finanziell weiter aufgestockt, flüchtlingsfeindlichen, selbst offen rassistischen Regimes nicht widersprochen, im Gegenteil: Sie werden unverändert milliardenschwer subventioniert. Wer sich widersetzt, wird belangt: Wie etwa Sarah Mardini, die 2015 ein antriebsloses Boot schwimmend in den Hafen gezogen hatte. 2018 wurde sie deshalb in Griechenland verhaftet. Der Vorwurf: Menschenhandel.
Zieglers Schlusssatz: „Wir müssen die sofortige und endgültige Schließung aller Hotspots durchsetzen. Denn sie sind die Schande Europas.“
Jean Ziegler, „Die Schande Europas. Von Flüchtlingen und Menschenrechten“. € 15,50 / 144 S. C. Bertelsmann, München 2020
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