Im Theater der Welt
„Die Insel ist ein theatraler Raum: Alles, was hier geschieht, verdichtet sich fast zwangsläufig zur Geschichte, zum literarischen Stoff. … Das Paradies mag eine Insel sein. Die Hölle ist es auch.“
Und so erzählt Judith Schalansky von „Inseln, auf denen ich nie war und niemals sein werde“: hochverdichtet und literarisch. Und „alles, was hier geschieht“ umfasst in bestürzender Vollständigkeit ein Pandämonium des Leider-auch-Menschlichen, in dem Vergewaltigung zur Gewohnheit, Mord zur Komödie und Kindstötung zur Notwendigkeit wird. Das Paradies gibt es auch, die Andamaneninsel North Sentinel: Weil sie noch niemand betreten hat im Ungeist der Belehrung, Besitznahme, Befriedung oder Ausbeutung. Und alles an Absurdem und Abgründigem dazwischen, das „ins Zentrum des hybriden Wesens von Inseln“ führt: „zwischen Wildem und Kultiviertem, zwischen Verlassenem und Verbundenem, zwischen Wunschtraum und Ernüchterung“. Die gesamte Weltgeschichte, meint Frau Schalansky, ließe sich in ihren Grundzügen anhand von Inselporträts nachzeichnen.
Zwölf Jahre nach dem Erscheinen der trendsettenden Erstausgabe ist der Atlas der abgelegenen Inseln nun neu erschienen, aktualisiert und um fünf auf nunmehr 55 Inseln erweitert – getrieben vom Wunsch, in einer „Zeit, die einen Großteil der von Menschen bewohnten Weltgegenden in lauter Inseln von Haushalten verwandelte“, einmal mehr die maßloseste aller Reisen anzutreten, jene ins „theatrum orbis terrarum“, dem „Theater der Welt“, wie Atlanten ursprünglich genannt wurden. Ob mutierte Mäuse oder militante Missionare: Diese Abenteuer für den Kopf vermochte nur die Wirklichkeit sich auszudenken. Sie emissions- und aufwandsfrei erleben zu dürfen, ist ein Geschenk für viele Stunden glücklichen Verlorenseins.
Judith Schalansky, „Atlas der abgelegenen Inseln. Fünfundfünfzig Inseln, auf denen ich nie war und niemals sein werde.“ € 37,10 /160 S. Mare-Verlag, Hamburg 2021