Wegen einer Streiterei
Thriller, Drama, Dystopie und Lehrstück über politische Kommunikation: Ken Folletts „Never“ seziert die Banalität des Untergangs.
„Never ist die realistischste Geschichte, die ich je geschrieben habe.“ Steht man noch ganz unter dem Eindruck des eben zu Ende gelesenen neuesten Romans von Bestseller-Autor Ken Follett, ist dieses Zitat des Schriftstellers geeignet, einem das Fürchten zu lehren. Denn tatsächlich betrieb Follett, der es sich leisten kann, ganze Teams mit Recherchen für seine Bücher zu betrauen, für diese Gegenwarts-Dystopie einen nie da gewesenen Aufwand – mit dem Ergebnis, dass die völlig frei erfundene Geschichte sich in keinem Moment anders liest als die einzig mögliche Abfolge der Ereignisse.
Die zentrale Frage: Kann es erneut zu einem Weltkrieg kommen, obwohl diesen in Wahrheit keiner will – wie schon den Ersten Weltkrieg, von dem Follett glaubt, dass er, seinen Erkenntnissen aus den Recherchen für Sturz der Titanen zufolge, „aus Versehen“ geführt wurde? Und obwohl allen klar ist … klar sein muss … klar sein müsste, dass der Dritte Weltkrieg, der atomare, das Leben auf diesem Planeten, wie wir es kennen, beendete?
Die episch angelegte Story reicht vom Weißen Haus bis nach Peking, erzählt von den Verbindungen von Terrorismus und organisierter Kriminalität, führt uns an den Tschadsee, durch die Sahara, nach Nord- und Südkorea. Alle Ereignisse hängen miteinander zusammen, es gibt nur eine Welt und alles ist mit allem verbunden: Dieses unentwirrbare Geflecht, in dem es alles gibt außer einfachen Antworten, gibt das Bühnenbild für Folletts apokalyptisches Drama. Die Pageturner-Hungrigen werden sattsam befriedigt mit Action und Romantik aus wohlgeübter Feder. Die bemerkenswerteste Leistung des 900-Seiten-Wälzers liegt aber im Bloßlegen der grauenvollen Banalität des Untergangs.
„Wer hat angefangen?“ war schon immer die falsche Frage
Sorgsam seziert Follett den Politsprech und liefert uns in Summe ein Lehrstück über politische Kommunikation. Doch am Ende des Tages stecken hinter all den Verträgen, Wirtschaftsabkommen, Ideologien, internationalen Verpflichtungen, aufgeblähten Parteiapparaten, klickgeilen Medien und tausend anderen „Wichtigkeiten“ einfach nur Menschen. Menschen, die dumm und eitel oder beides sind. Menschen, die sich fürchten, vor Macht- und Gesichtsverlust, vor dem Tod. Menschen, die zusammenbrechen unter der Schwere der Entscheidung, der Last der Verantwortung. Menschen, die zum Spielball der Umstände und hilflos werden, allen noch so guten Absichten zum Trotz.
Und dann, wenn diese Menschen auf ihre bloße Existenz zurückgeworfen werden, ihrer ganzen riesenhaften Fassade beraubt, spätestens dann sitzen sie in der Sandkiste und werfen mit Steinen. Wer hat angefangen? Das war schon immer die falsche Frage: „Jede Katastrophe beginnt mit einem kleinen Problem, das nicht gelöst wird.“
Ken Follett, „Never. Die letzte Entscheidung“. € 17,50 / 877 S. Bastei-Lübbe, Köln 2023