Großartig ungeschliffen
Ein Sound, wie er nur zustande kommt, wenn aus eigener Erfahrung geschrieben wird: Die Zeitgeschichte porträtierenden Bücher von Johannes Herwig tragen dieses Qualitätsmerkmal. Der titelgebende halbe Löwe in seiner neuesten Arbeit bezieht sich auf den allgegenwärtigen Verfall in Leipzig, der ehemaligen Ossi-Stadt. Er verleiht dem permanenten Gefühl von Sinnlosigkeit, das die „Viererbande“ um den Protagonisten Sascha umgibt wie ein Geruch, der sich nicht abwaschen lässt, einen Rahmen. Das raue Stück Prosa ist lakonisch, desillusioniert, gemahnt mitunter gar an den gewaltvollen Nihilismus von Uhrwerk Orange – und könnte doch nicht ferner davon sein. Denn ja, Sascha und seine Kumpels sind Täter, doch vor allem sind sie Verlorene, gestrandet irgendwo zwischen dem untergegangenen Osten und dem immer noch fernen Westen, dessen Heilsversprechen an dieser Generation vorüberzieht und keine Spuren hinterlässt. Und Sascha sehnt sich einfach nach seinem Vater, der viel zu früh verstorben ist, Sascha kümmert sich liebevoll um seine kleine Halbschwester, Sascha ist ganz gut darin, mit seiner ständig gestressten, kettenrauchenden, fürs finanzielle Überleben sich halb zu Tode arbeitenden Mutter zu reden, die doch auch nur versucht, das Beste aus dem beschissenen Blatt zu machen, das ihnen gegeben wurde. Und miteinander reden, das ist das Fundament, sagt sie, denn sonst ist einfach „alles fürn Arsch“.
Und so blitzt in der ganzen Tristesse, in der viel gesoffen und gekifft, geprügelt und gestohlen und allerlei gefährlich dummer Unsinn getrieben und große Schuld auf sich geladen wird, auch alles das auf, was das Leben wert macht, es zu leben: Liebe. Humor. Mut, man selbst zu sein. Miteinander sein. Schöpferisch sein. Traurig sein. Und: Vergebung.
Berührend, authentisch, ungeschliffen: großartig. 2024 wurde Herwig als erster Autor aus dem Bereich Jugendbuch mit dem Anna-Seghers-Preis ausgezeichnet. Er geht an junge Stimmen, die mit den „Mitteln der Kunst zur Entstehung einer gerechteren Gesellschaft beitragen wollen“.
Johannes Herwig, „Halber Löwe“. € 18,50 / 240 S. Gerstenberg, Hildesheim 2023
