Erschreckendes zur Lage der Menschheit: Der Übergang
„Lesen Sie dieses Buch, und die Welt, wie Sie sie kennen, wird es nicht mehr geben.“ Ein solches Zitat von niemand Geringerem als Stephen King zur Bewerbung eines Buches zu bekommen, will schon was heißen – schließlich hat es dieser Erfolgsautor mit Sicherheit nicht nötig, sich irgendwo anzubiedern.
Ich kann ihm nach der Lektüre des 1 020 Seiten starken Wälzers beeindruckt beipflichten: „Von einem Tag auf den anderen rast die Welt dem Untergang entgegen“, ist am Umschlag zu lesen. Alles bis dahin ist Vorgeschichte, die allerdings für sich genommen einen spannenden und herausragend gut erzählten Thriller von knapp 300 Seiten abgibt. Dann ist alles anders, wir machen einen Zeitsprung und befinden uns in einer postapokalyptischen Welt. Und damit geht es von neuem los: Die Menschheit hat es geschafft, sich mittels eines Virus bis auf eine Handvoll zäh ums Überleben kämpfender Überreste so gut wie vollständig auszurotten. Millionen haben sich in lichtscheue, reißende, blutsaugende Bestien verwandelt, ihrer früheren Identitäten beraubt und einer zentral gesteuerten Schwarmintelligenz unterworfen. In der kleinen Menschenkolonie, in der alles seinen zweiten Anfang nimmt, hängt alles davon ab, dass die Lichter nicht ausgehen; doch die nicht erneuerbaren elektrischen Anlagen sind mehr als 90 Jahre alt und langsam dämmert es den Bewohnern, dass sie von geborgter Zeit leben.
Der Übergang als Vampirroman zu bezeichnen ist in Zeiten von Twilight und ähnlichem Schmus eine Beleidigung, auch wenn die mörderischen, in einer Art mentalem Fegefeuer gefangenen Monster einige Attribute von Draculas Sippschaft aufzuweisen haben. Auf der Anklagebank stehen hier aber nicht die ganz und gar unromantischen Bluttrinker, sondern die Menschheit selbst, deren Allmachtsphantasien weder vor moralischen Dilemmata noch vor einem Spiel mit einem Feuer, gegen das die Flammen von Hiroshima und Nagasaki wie das Leuchten von Glühwürmchen erscheinen, halt machen.
Der Übergang ist eine brillant erzählte, packend und mit bemerkenswert hohem literarischem Anspruch geschriebene, in die Tiefe gehende Parabel auf den Zustand der Welt – getan wird, was getan werden kann, und wenn es das Ende des intelligenten Lebens bedeutet. Ist das nicht genau die Maxime, die das Handeln der Mächtigen zu bestimmen scheint?
Eins bleibt noch zu sagen: „Der Übergang ist der erste Teil einer geplanten Trilogie“, wurde irgendwo am hinteren Klappentext angemerkt. Es klingt fast so, als wäre der Verlag nicht überzeugt, dass der Autor, nach vier Jahren Arbeit an diesem Buchmonster, tatsächlich noch die Kraft aufbringen wird, zwei weitere, vermutlich ähnlich umfangreiche Werke abzuliefern. Das bleibt abzuwarten; jedenfalls hat mich dieses Buch nicht mehr in Ruhe gelassen, und obgleich man am Ende in der Etappe stehengelassen wird, war es in jeder Hinsicht erfüllend.
Justin Cronin: Der Übergang. Goldmann, München 2010. Geb., 1 020 S.
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